Die Anfänge des Industriegebiets an der Pragstraße reichen bis ins 19 Jahrhundert zurück. Seit 1873 produzierte dort die „Erste Süddeutsche Manometer Fabrik“ J. C. Eckardt. 1879 entstand dort Werner & Pfleiderer. In der Pragstraße 34 wohnte in den 1880er Jahren Wilhelm Maybach, der dort auch sein Konstruktionsbüro eingerichtet hatte. 1903 wurde an der Pragstraße die Fortuna Werke gegründet, es folgten die Schwedischen Kugellagerfabriken (SKF, die 1926 in der Norma-Gruppe aufging) und die „Versuchsbau Hellmuth Hirth“, sowie einige andere Unternehmen.
In einem Bericht der Stuttgarter Nachrichten vom 05. Dezember 2010 wird die Pragstraße als „Deutschlands Industriestraße Nummer eins“ zur damaligen Zeit bezeichnet. Seit 1909 verkehrte die Straßenbahn auf der Pragstraße und beförderte die industrielle Entwicklung, das Umfeld der Fabriken wurde mit Wohngebäuden aufgesiedelt. Schon bald zeigte sich, dass der Standort für eine so große Zahl expandierender Unternehmen nicht ausreichte. Bereits 1905 kaufte Werner & Pfleiderer ein Areal in Feuerbach und verlegte den Firmensitz dorthin. Mit dem Einstieg von Hermann Mahle als siebtem Mitarbeiter in der Firma von Helmuth Hirth am 01. Dezember 1920 beginnt die Firmengeschichte der Firma Mahle.
Ein Zentrum der Rüstungsindustrie
In den 1930er Jahren prägten die Industrieareale der Firmen Mahle (Nr. 26 -46), Eckart (Nr. 72 – 82) Wizemann (in der Quellenstraße und Im Schwenkrain) SKF/Norma (Nr. 136) und Fortuna (Nr. 138-142) sowie die dazwischen errichteten Wohnblocks das Bild der Pragstraße.
Die meisten Unternehmen produzierten für die Fahrzeug- und Flugzeugindustrie und waren infolgedessen nicht nur als kriegswichtig eingestuft, sondern auch als entsprechend gefährdet. Neben den Bosch-Werken in Stuttgart-West und in Feuerbach und Daimler-Benz in Untertürkheim galt die Pragstraße als potentiell hoch priorisiertes Bombenziel der alliierten Luftwaffe.
Damit ist auch ein Mythos verbunden, der sich um die beiden Luftangriffe auf dieses Gebiet am 21. und 25. Februar 1944 rankt. In seinem Buch „Stuttgart im Luftkrieg 1939 – 1945“ erwähnt Heinz Bardua eine Direktive des britischen Luftfahrtministeriums vom 28. Januar 1944, die die Vereinigten Kugellagerfabriken (SKF/Norma) in der Löwentor-/Pragstraße unter Nummer 5 der deutschen Kugellager-Ziele führte. Angeblich wurden aufgrund dieser Direktive auch entsprechende Flächenbombardements durchgeführt.
Es gibt aber keinen eindeutigen Beleg, dass der britische Angriff vom 21. Februar wirklich explizit oder ausschließlich den Kugellagerfabriken galt, zumal in den Vorkriegsjahren die Motor- und Motorflugsportwelt international aufsehenerregende Erfolge von Motoren mit Mahle-Kolben gesehen hatte. Jeder, der diese Branchen kannte, kannte auch den Namen Mahle. In den Einsatzbefehlen der alliierten Bomber tauchten aber nur wenige Firmennamen in Stuttgart als Ziele auf: Überwiegend Bosch und Daimler. Die Pragstraße wurde überwiegend als das begriffen, was sie war: Eine Konzentration kriegswichtiger Industriebetriebe.
Am 21. Februar 1944 erreichten von 598 britischen Bombern 552 Stuttgart, das unter einer geschlossenen Wolkendecke lag. Getroffen wurde die Innenstadt und vor allem der nördliche Industriegürtel der Stadt zwischen den Feuerbacher Bosch-Werken und den Betrieben an der Pragstraße und in Bad Cannstatt, aber auch die umliegenden Wohngebiete. 159 Menschen starben, 977 wurden verwundet.
Belegt ist allerdings, dass die Kugellagerwerke ein priorisiertes Ziel der USAAF waren. Am 06. September 1943 flogen sie den ersten Tagangriff auf Stuttgart. Bei diesem Angriff flog der LIFE-Reporter Frank Scherschel mit, dessen Reportage über den Angriff im Oktober in LIFE erschien. Laut Einsatzbericht starteten zwei Verbände mit zusammen 180 Bombern in Ostengland. Deutsche Quellen sprechen von 150 Bombern (Wikipedia) bzw. 200 (Heinz Bardua). Laut Einsatzbericht versuchten 111 Maschinen Stuttgart anzugreifen. 4 Bomber hatten den Einsatz abgebrochen und waren auf die Basen zurückgekehrt, die anderen warfen auf dem Rückflug ihre Bomben auf Zufallsziele.
Die Maschinen hatten als primäres Ziel die Kugellagerfabrik der SKF. Die anderen sollten Ziele in Stuttgart angreifen. Die Stadt war allerdings unter dichten Wolken und künstlicher Vernebelung nur schwer auszumachen. So traf der Angriff fast ausschließlich den Stuttgarter Westen, was auf deutscher Seite zu der Interpretation führte, dass die Boschwerke am Berliner Platz das Ziel gewesen seien. Die Kugellagerfabriken wurden an diesem Tag nicht getroffen. Laut Einsatzbericht der USAAF wurden 15 Bomber abgeschossen. LIFE berichtet von 35 Bombern, die an diesem Tag verloren gingen.
Am 25. Februar erfolgte der nächste Tagangriff auf die KUgellagerwerke durch die USAAF. Auf dem Rückflug vom Einsatz gegen Regensburg löste sich plötzlich eine Gruppe von Bombern aus einem größeren Verband und bombardierte die Fabriken an der Pragstraße, vor allem die Vereinigten Kugellagerfabriken, die diesem Verband als Einsatzziel gegeben worden waren. Es gab 10 Tote und 46 Verwundete. Nach Unterlagen der USAAF waren 50 B-17 Bomber an der Attacke beteiligt. Wikipedia und Bardua geben die Zahl mit 15 Bombern an. Dem könnte ein Übermittlungsfehler zugrunde liegen.
Luftbilder: digitalhistoryarchive / NARA
Während amerikanische Angriffe also gezielt gegen die Kugellagerwerke geflogen wurde, scheint eine so enge Zielsetzung für den britischen Angriff am 21. Februar fraglich und vom Ergebnis hergeleitet, untermauert durch die erwähnte Direktive. Er wurde offenbar gegen den nördlichen Industriegürtel insgesamt geführt. In Kommentaren der USAAF zu den Luftbildern vom 25. Februar ist von sechs Tagen die Rede, in denen der deutschen Industrie schwere Schläge zugefügt wurden. Sie ordnen die Angriffe also einer größer angelegten Kampagne zu. Ohne Zweifel war aber das Ergebnis der Februarangriffe auch der Ausfall der SKF, wohingegen die Fortuna-Werke und auch Mahle noch einmal mit geringeren Schäden davon kamen.
Ein Stollen unter den Fabriken
Zusätzlich zu den bereits vor und bei Kriegsbeginn eingerichteten Werkluftschutzkellern in den Fabriken wurde auch ein Luftschutzstollen parallel zur Pragstraße geschaffen, der mehrere Fabriken unterirdisch miteinander verband. Der Stollen war weitgehend mit Betonfertigteilen ausgekleidet und hatte keinen einheitlichen Querschnitt.
Möglicherweise haben die beteiligten Firmen die Baukosten für ihren Abschnitt selbst getragen und so auch die Bauausführung bestimmt. Es gab Abschnitte, die als Gewölbe ausgeführt waren, und Abschnitte mit einem rechteckigen Querschnitt. Die einzelnen Stollensegmente waren mit Luftschutztüren gegeneinander abgegrenzt, so dass zwar die jeweiligen Belegschaften unter sich waren, im Falle eines Treffers auf den Stollen aber benachbarte Segmente als Notausgänge genutzt werden konnten.
Der Stollen war durchgehend elektrifiziert und verfügte über Trockentoiletten. Eine zentrale leistungsfähige Lüftungsanlage wurde nicht installiert, auch Wasseranschlüsse waren nicht durchgängig vorhanden.
Nach dem Krieg wurde der Stollen von den Firmen als Lagerraum genutzt und geriet nach und nach in Vergessenheit. Durch die beständige Bautätigkeit in dem Areal gingen im Laufe der Zeit immer mehr Teile des Stollens auch verloren, so dass er inzwischen weitgehend verschwunden ist. Bereits bei unserer Begehung im Jahr 2006 waren Teile des Stollens abgemauert, die nicht mehr zugänglich waren.
Flak
1943 wurde auf dem Werksgelände der Norma die drei 3,7 cm-Flak der III/2/858 stationiert. Ihre Schwesterbatterie ging auf dem Areal von Fortuna und Mahle in Stellung. Ob der Gefechtsstand der III/2/858 im Stollen oder im Keller des Norma-Werks untergebracht wurde, ist nicht bekannt.
Die beiden leichte Flakbatterien standen bei den Luftangriffen auf das Industriegebiet Pragstraße jedesmal mitten im Bombenhagel, flankiert durch die Schwere Flak der Stellung am Burgholzhof.