Obertürkheim, Mirabellenstraße

Als die Stadtverwaltung der Stadt Stuttgart eine großangelegte Fotodokumentation der Stadt auf den Weg brachte wurden auch mehrere Fotos in der Deutschsüdwestafrika-Straße gemacht. Dabei wurde auch die Baustelle für den dort entstehenden Luftschutzstollen fotografiert. Die Fotos sind inzwischen durch das Projekt „Stuttgart 1942“ der Stuttgarter Zeitung publiziert worden (S. 94).

Die Deutschsüdwestafrika-Straße war in der Mitte aufgerissen worden, und ein Feldbahngleis verlegt worden, auf dem Arbeiter die Loren mit dem Stollenaushub zum Verladepunkt schoben, wo er abtransportiert wurde.

Am Straßenrand stand auch ein mehrstöckiges Gerüst für die Mischung des Betons, mit dem der Stollen ausgeschalt wurde.

Der Stollen gehörte zur zweiten Bauwelle des Luftschutzprogramms, die auf dem Erlass des Reichsluftfahrtministeriums (RLM) vom 04.06.1941 basierte. Obwohl die Anlage in einen recht steilen Weinberg hineingetrieben wurde, der schon nach wenigen Metern eine hohe Überdeckung bot, wurde der gesamte Stollen ausbetoniert. Offenbar wurde der Hang von den Geologen als nicht ausreichend stabil eingestuft.

Damit ist der Stollen eine von 10 betonierten Stollenanlagen, die in Stuttgart geschaffen wurden. Dem stehen rund 300 sogenannte Pionierstollen gegenüber, die bis Kriegsende im Stadtgebiet entstanden, von denen einige zwar (ganz oder teilweise) mit Betonfertigteilen ausgekleidet wurden, die meisten jedoch lediglich eine Holzausschalung erhielten.

Für den Stollen wurden zwei Zugänge geschaffen, einer bei Hausnummer 44 und der andere bei Hausnummer 56. Er bestand aus zwei längs im Hang verlaufenden Stollen, die durch drei Querstollen miteinander verbunden waren, jeweils in Verlängerung der Zugänge, sowie noch in der Mitte auf halber Strecke. Der erste Querstollen ist ca. 130 m lang, der zweite, weiter im Berg liegende, ca. 110 m. Es wurde ein Anschluss an das städtische Strom- und Wassernetz gelegt, so dass Licht und WCs vorhanden waren. Auf 1.511 Quadratmeter sollten 2.300 Personen Schutz vor Luftangriffen finden.

Für die Bevölkerung Obertürkheims war die Anlage sehr wichtig. Durch die Nähe der Daimler-Werke, der Maschinenfabrik Esslingen und anderen Industriebetrieben im Neckartal waren die Wohngebiete Obertürkheims ebenfalls stark durch Luftangriffe gefährdet. Untertürkheim hatte bereits in der ersten Bauwelle mehrere Bunker erhalten (Winkelturm und Tiefbunker am Bahnhof, zwei Hochbunker in der Sattelstraße). Im Rahmen der 2. Welle war dort auch der Stollen Strümpfelbacher Straße ausgebaut worden. Auch Wangen hatte 1941 einen Hochbunker erhalten, nicht jedoch Obertürkheim. Im benachbarten Mettingen war ebenfalls schon 1941 mit dem Bau einer Stollenanlage begonnen worden.

Obertürkheim wurde bei Luftangriffen immer wieder getroffen. Am 26.11.1943 wurde bei einem Angriff u.a. auch die 1926 aus Holz errichtete katholische Kirche „St. Franziskus“ komplett zerstört. Die Kirchengemeinde hatte vor dem Krieg Baugesuche für eine größere, aus Stein zu bauende Kirche eingereicht, die jedoch abgelehnt worden waren.

Für das Ersatzbauwerk der zerstörten Holzkirche fand am neuen Ort, in der Mirabellenstraße (die bis 1945 Deutschsüdwestafrika-Straße geheißen hatte) am 27.07.1947 die Grundsteinlegung statt. Das Richtfest konnte am 08. Dezember 1948 gefeiert werden, die Konsekration am 04.03.1951.

Seither prägt die Franziskuskirche das Straßenbild in der Mirabellenstraße und das Ortsbild in diesem Teil Obertürkheims. Der Luftschutzstollen verlor nach dem Krieg an Bedeutung und verschwand allmählich aus der öffentlichen Wahrnehmung. Die Metalltüren wurden weitgehend entfernt, die Zugangstüren durch einfachere ersetzt. Vor dem Eingang Hausnummer 56 steht heute ein Wohnhaus-Neubau. Generell ist die Adresse des Stollens nicht ganz eindeutig. Der Stollenplan von 1942 nennt als Adresse die Kamerunerstraße, also die heutige Ebniseestraße. Deren Einmündung liegt an der Mirabellenstraße 56. Der zweite Zugang bei Hausnummer 44 ist die Adresse, die der Stollen im Kalten Krieg hatte. Allerdings ist dort heute kein Eingang mehr und eine Hausnummer 44 existiert nicht. In den 1970er Jahren wurde auf dem Areal Hausnummer 42 und 44 ein Mehrfamilenhaus errichtet, das nun an das Grundstück Hausnummer 46 grenzt.

Die sichtbarsten Hinweise auf den Stollen sind heute die beiden im ehemaligen Weinberg gut sichtbaren Lüftungskamine, die zwischen Haus Nummer 56 und 54, bzw. hinter Haus Nummer 54 stehen.

Während des Kalten Krieges wurde die Anlage nicht instandgesetzt. Bis 2004 wurde sie mehrere Jahre als Weinlager des Weinguts Zais genutzt, das auch einen Schrägaufzug eingebaut hatte.

Danach war vor allem die Rettungshundestaffel des Deutschen Roten Kreuzes Nutzer des Stollens.

Es blieb nicht bei diesem einen Stollen für Obertürkheim. In der Uhlbacher Straße 115-125 entstand 1944 ein Pionierstollen mit 220 Quadratmetern Grundfläche und in der Augsburger Straße 711-713 ein weiterer mit 370 Quadratmetern. Die Grundfläche zeigt aber, dass diese Anlagen deutlich kleiner waren, als die Anlage in der Mirabellenstraße.

Im benachbarten Uhlbach entstanden 4 Pionierstollen. Dort konnten wir vor mehreren Jahren auch einen gut erhaltenen, zum Luftschutzkeller ausgebauten Weinkeller besichtigen.