Produktion der Me 262

Produktion der Me 262

Alexander Kartschall: Produktion der Me 262 – Von Waldwerken und Untertage-Verlagerungen zu Großbunkern – epubli 2017 – ISBN: 978-3-7450-3207-9, 240 Seiten.

An Büchern zur Me 262 besteht kein Mangel. Und seit Dan O’Connell 2005 das Production Log 1941-1945 herausbrachte, kann für jedes einzelne der ca. 2.000 montierten Flugzeuge der Ort der Endmontage nachgeschlagen werden. Und doch blieb bislang stets eine Lücke, aus der sich Mythen und Legenden speisten. Die Antwort auf die Frage, wo die einzelnen Komponenten des Flugzeugs gefertigt wurden, war bislang ein Puzzle, von dem nur wenige Teile offen lagen.

Alexander Kartschall hat mehrere Jahre alle Hinweise recherchiert und versucht, so viele Teile dieses Puzzles wie möglich zusammenzufügen. So ist der eher unspektakuläre Titel seines Buchs zugleich die Essenz der Inhaltsangabe. Und seine Forschungsergebnisse sind beachtlich und spannend zugleich.

Beim ersten Durchblättern fällt bereits auf, dass der Autor sich umfassende Gedanken zur Gliederung gemacht hat. Die technischen Details zum Flugzeug hat er auf ein notwendiges Minimum reduziert, da sie bei anderen Autoren bereits erschöpfend publiziert sind. Die militärhistorischen Eckdaten hat er im Anhang des Buchs in eine kurze Zeitleiste gestellt, wo auf drei Seiten in Stichworten die entscheidendsten Daten zur Konzeption und Produktion des Flugzeugs wie auch die des Kriegsverlaufs aufgelistet sind.

Mit ingenieursmäßiger Klarheit hat er dann das Gerüst seines Buches aufgebaut: Vorgeschichtliche Details, Planungen, Diskussionen in den unterschiedlichsten Gremien, Kriegsereignisse und Kriegseinflüsse, getroffene Entscheidungen, Standortauswahl, beteiligte Personen, Testläufe, Beauftragungen, der Aufbau der Produktionslinie und dann der Versuch die Produktionsprozesse nachzuvollziehen. Schließlich versammelt das Buch dann auch noch alle Rechercheergebnisse zu Orten und Betrieben, die in diese Produktionslinie eingebunden waren.

Dass das Buch sowohl bei der Recherche der involvierten Betriebe und Orte als auch bei der Rekonstruktion des Produktionsprozesses keine hundertprozentige Rekonstruktion liefern kann, liegt in der Natur der Sache. Die Zahl der lebenden Zeitzeugen nimmt beständig ab, viele Belege sind verloren und die Suche nach Details kann letztlich endlos fortgesetzt werden. So steht jeder Autor irgendwann vor der Entscheidung, ob das Bild, das er zeigen möchte, für eine Buchpublikation ausreichend dargestellt und erkennbar ist, oder ob er weitere Jahre mit ungewissem Ausgang in die Recherche investieren möchte.

Kartschalls Entscheidung war absolut richtig. Er sprach mit Leuten von Airbus, mit zahlreichen Autoren lokaler Publikationen, die in irgendeiner Form das Thema Me 262 bereits für ihren Ort recherchiert hatten, mit den Initiativen der Gedenkstätten jener KZ-Betriebe, die in die Produktion des Flugzeugs eingebunden waren, er arbeitete die vorhandene Literatur durch und wartet mit einer beeindruckenden Fülle an Karten, Grundrissen, Luftbildern und historischen Fotos auf, die seine Arbeit anschaulich illustrieren. Und er liefert Angaben zu Produktionsbetrieben, die teilweise nur wenig bis gar nicht zusammenhängend publiziert wurden, und die ein anschauliches Bild von der Produktionslinie der Me 262 liefern. Ein ganzes Kapitel beschäftigt sich mit der Produktionsverlagerung im Großraum Stuttgart und liefert auch Puzzleteile, die bislang nur wenig bekannt waren.

Während die KZ Leonberg und Vaihingen/Enz weitgehend bekannt sind, war zum KZ Unterriexingen lange Zeit nur wenig Konkretes publiziert worden. Die Produktion der Fahrwerke bei Opel in Rüsselsheim und Electron Co. in Bad Cannstatt gehört zu den bislang wenig bekannten Details. Auch die Lokalisierung der Zelthalle am Bahnhof Münchingen, in der Fahrwerksteile produziert und nach Leonberg geliefert wurden, war lange Zeit ein Rätsel gewesen.

Abgerundet wird das Buch mit den Projekten, die abgebrochen oder nicht (mehr) umgesetzt wurden. Hierzu gehört der begonnene Großbunker bei Glesch an der Erft, die Konzeption einer Montage direkt beim Flugplatz Großsachsenheim mit dem Stollenprojekt „Galenit“, sowie geplante Erweiterungen der Produktionslinie an diversen Standorten, die mitunter über die Errichtung erster Baracken nicht mehr hinauskamen.

Wer Alexander Kartschall in die Geschichte der Me 262-Produktion folgt, findet nicht nur die Namen etlicher Firmen, die bislang allenfalls in lokalen Publikationen mit der Fertigung dieses Flugzeugs in Verbindung gebracht wurden, er findet auch ein dichtes Netz allgegenwärtiger Lager für Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge. Diese lagen mitunter inmitten der Ortschaften, oder direkt daneben. Praktisch kein einziges Teil des Flugzeugs wäre ohne den Einsatz von Zwangsarbeitern produziert worden. Sowohl die Arbeitsbedingungen auf den Baustellen und in den Produktionsstätten wie auch die Unterbringung und Versorgung der Häftlinge waren unmenschlich. Willkürliche Misshandlungen und Morde gehörten zu ihrem Alltag. Der Autor spart auch die Zahl der Toten nicht aus. Sie gehören genauso untrennbar zum Produktionsprozess wie die erstaunliche logistische Organisation.