Wir waren Menschen zweiter Klasse

Iason Chandrinos / Volker Mall: “Wir waren Menschen zweiter Klasse –Die Geschichte der 1040 im Sommer 1944 von Athen nach Deutschland deportierten Griechen“
KZ-Gedenkstätte Hailfingen-Tailfingen e.V., Books on Demand, Norderstedt, 2022, ISBN 9783756204861, 600 Seiten

„In der immer wachsenden Literatur über die Themenkomplexe ‚Konzentrationslager‘ und ‚Zwangsarbeit‘ sind die Griechen bis auf sporadische statistische Hinweise praktisch unauffindbar“, schreibt Volker Mall im Vorwort dieses Buches.

Dabei gab es mit Eduard Rock-Tabarowski einen Zeitzeugen, der von August 1944 bis April 1945 auf dem Flughafen Hailfingen-Tailfingen im Einsatz war, später in Herrenberg und Leonberg-Gebersheim wohnte, und einen engen Kontakt zur Gedenkstätteninitiative des KZ Hailfingen-Tailfingen hatte. Da er zwar für sich und seinen Halbbruder sprechen konnte, aber keine Namens- oder gar Deportierungslisten hatte, blieb er ein einzelner Repräsentant einer bis heute kaum beachteten Gruppe von Zwangsarbeitern, über die mangels solcher Listen bisher fast nichts publiziert wurde.

2017 fand Iasonas Chandrinos eine Liste der 1040 im August 1944 nach Deutschland deportierten Griechen. Manche von ihnen hatten Tagebücher geschrieben, die aber bislang unveröffentlicht geblieben waren. Chandrinos machte sich zunächst daran, Zugang zu diesen Aufzeichnungen zu bekommen, und nach Bezügen zu Hailfingen-Tailfingen zu suchen. Es stellte sich aber schnell heraus, dass diese Männer auch in zahlreichen anderen Orten im Südwesten zum Einsatz kamen.

So entwickelte sich eine Recherche, die einerseits die Tagebücher nach Orten in Deutschland absuchte, und die entsprechenden Passagen der Übersetzung zuführte und die andererseits die Einsatzorte in Deutschland und ihre Bedeutung für die deutsche Kriegswirtschaft zu erfassen versuchte.

Das Ergebnis ist eine 600-seitige Dokumentation, die auf mehreren Ebenen überrascht. So ungewöhnlich es ist, dass eine ganze Nationalität aus der kaum noch überschaubaren Literatur zur Zwangsarbeit im Nationalsozialistischen Deutschland bislang weitgehend ausgeklammert war, so verblüffend waren auch andere Rechercheergebnisse. Etwa die Nicht-Erwähnung griechischer Mitgefangener in den Tagebüchern französischer Zwangsarbeiter, die in Mannheim eingesetzt waren, oder die aus Mangel an Dokumenten heraus begründete Verneinung lokaler Ortsarchive, dass dort auch Arbeitskräfte aus Griechenland zum Einsatz kamen.

Mitverantwortlich für diesen Mangel an Belegen war das Vorgehen der Deutschen Besatzer in Griechenland. Die Betroffenen kamen nicht über das KZ-System, dessen Lager- und Transportlisten inzwischen intensiv ausgewertet sind. Sie waren auch nicht über die sogenannte „Anwerbung“ der Arbeitsämter über z.B. das zentrale Durchgangslager Bietigheim geschleust worden, zu der es ebenfalls teils umfangreiche Quellen gibt. Die Griechen kamen auf einem sehr direkten Weg nach Deutschland, den Detlef Creydt und August Meyer 1993 folgendermaßen beschrieben: Hans Kehrl, der Planungschef des „Planungsministeriums“ „war selbst zuständig, um der ‚Sondereinheit‘ […] ausreichend ‚Menschenmaterial‘ aus Auschwitz, aus dem besetzten Ausland, aus weniger kriegswichtigen Betrieben kurzfristig zu beschaffen. Aufgrund seiner Anordnungen beschaffte er auf direktem Wege das notwendige ‚Material‘“. (Creydt/Meyer: „Zwangsarbeit für die ‚Wunderwaffen‘ in Südniedersachsen 1943 – 1945, Band 1‘, Steinweg-Verlag, 1993)

Dieser „direkte Weg“ findet sich in den griechischen Tagebüchern, und er erklärt das Fehlen der in zahlreichen Fällen zur Aufklärung nutzbaren Lager- bzw. Transportlisten. Viele der Griechen waren wegen z.T. geringfügiger Vergehen, die als Widerstand gegen die Besatzung ausgelegt wurden, Äußerungen gegen die Deutschen oder einfach auch Zugehörigkeit zu linken Gruppierungen verhaftet und dann in vielen Fällen direkt, jedenfalls aber ohne Umwege über die KZ oder Durchgangslager, zu ihren Einsätzen nach Deutschland deportiert worden.

Der „direkte Weg“ und seine Verbindung zu den „Wunderwaffen“, wie Creydt / Meyer ihn für Südniedersachsen beschreiben, führt denn auch zu einer weiteren Ebene, auf der dieses Buch durch die Tagebücher der ehemaligen griechischen Zwangsarbeiter bemerkenswerte Rechercheergebnisse liefert. Denn manche Einsatzorte der Griechen tauchen ihrerseits in der bisherigen Literatur zur Zwangsarbeit gar nicht oder nur am Rande auf. Es waren mitunter keine KZ-Außenkommandos, und folglich hat die KZ-Literatur sie nicht erfasst. In vielen Fällen wurden die Griechen direkt der Organisation Todt unterstellt, und verschwinden für die meisten historischen Arbeiten folglich in dem Kollektivbegriff „Organisation Todt“, der für ein nicht näher erklärtes Heer von Arbeitskräften steht, das auf den Baustellen des Rüstungsministeriums und der Wehrmacht tätig war. So etwa der Bauzug in Friedrichsfeld bei Mannheim mit rund 300 Zwangsarbeitern, die Flugplätze Hailfingen-Tailfingen, Deckenpfronn, Mötzingen, Neuhausen ob Eck und Mengen, wo die Griechen auf keiner der Baustellen einem KZ-Außenkommando zugeteilt waren, sondern unter dem Mantel der Organisation Todt im Einsatz waren.

Auch für Rüstungsprojekte wurden die griechischen Zwangsarbeiter eingesetzt. Etwa in Haigerloch-Stetten beim Projekt „Steinbutt“, wo das Salzbergwerk zunächst zum Verlagerungsstandort für die Berliner Alkett ausgebaut werden sollte und dann den Mauser-Werken in Oberndorf zugewiesen wurde. In Geislingen/Steige arbeiteten Griechen für das Projekt „Hecht/Rubin“, das bereits vor Kriegsende von den beteiligten Zwangsarbeitern, aber auch von Zeitzeugen vor Ort mit dem Bau von Komponenten für die V1 oder V2 in Verbindung gebracht wurde, die die WMF dort zu fertigen plante. Auch dort waren die Griechen Kommandos der Organisation Todt zugewiesen. Keine dieser Verlagerungen wurde bis Kriegsende fertig. Ca. 25 Griechen kamen im Winter 1944/45 nach Ogelshausen am Federsee zur „Arbeitsgemeinschaft Killy Herbertingen-Tannheim“. Sie mussten dort Schilf ernten und zu Matten flechten. Der Verwendungszweck der Matten ist bis heute unklar. Sie könnten als Material für Tarnungen eingesetzt worden sein.

So schließt das Buch nicht nur eine Lücke in der bisher kaum erfolgten Wahrnehmung griechischer Zwangsarbeiter in Süddeutschland 1944/45, es wirft auch ein Licht auf die direkte „Rekrutierung“ von Zwangsarbeitern in den besetzten Ländern, unter Umgehung der sonst hochbürokratisierten Verwaltung im NS-Lagersystem, und es führt letztlich zu den Schauplätzen diverser bis heute kaum erforschter Rüstungsprojekte im Südwesten, die ebenfalls außerhalb der KZ-Industrie insbesondere für Projekte der Luftwaffe eingerichtet wurden, und somit eine Art eigene Schattenwelt im Universum der Rüstungsverlagerung und der damit verbundenen Zwangsarbeit darstellten.