LS-Stollen Heilbronner Straße

 

 

Zwei Wochen nach dem Überfall auf Polen, am 15. September 1939, besichtigen die Technischen Beiräte der Stadt Stuttgart mehrere Luftschutzanlagen in der Innenstadt. Im Einzelnen verschaffen sie sich ein Bild von den Luftschutzräumen des Rathauses unter dem Pierre-Pflimlin-Platz, der Handwerkskammer, des Neuen Schlosses, des Güterbahnhofs (unter der Heilbronner Straße) und der Rettungsstelle des 16. Luftschutzreviers in der Martinskriche am Pragfriedhof (Eckartstraße).

Bis auf den Luftschutzraum unter der Kirche handelte es sich bei allen diesen Bauwerken um Stollenanlagen, die in Eisenbeton ausgeführt sind. Sie alle wurden bereits vor dem Krieg errichtet, jedoch nicht als öffentliche Luftschutzräume konzipiert, sondern als Luftschutzraum für einen bestimmten Personenkreis.

Ein Stollen für den Güterbahnhof

Im Fall des Luftschutzstollens unter der Heilbronner Straße waren dies die Beschäftigten des Güterbahnhofs und seiner Verwaltung, aber auch Bahnreisende, die bei Ankunft am Hauptbahnhof von einem Fliegeralarm überrascht worden wären. Das Bauwerk wurde unter der Straße in bergmännischer Bauweise ausgeführt, es wurde also keine Baugrube erstellt, sondern tatsächlich ein Stollen im Erdreich vorangetrieben und ausbetoniert. Der Aushub wurde mit Loren nach draußen geschafft. Zum Güterbahnhof hin entstanden vier Zugänge, von denen der Zugang I unmittelbar neben dem Verwaltungsgebäude des Güterbahnhof s lag, Zugang II lag ca. 20 m daneben. Zugangsstollen 3 lag etwa auf Höhe der Einmündung der Jägerstraße in die Heilbronner Straße und Zugang IV auf etwa Zweidritteln der Strecke zwischen den Einmündungen von Jägerstraße und Kriegerstraße.

Der Stollen verläuft nicht waagerecht sondern steigt in Richtung Nordosten an. Dadurch wurde die Steigung des Geländes teilweise ausgeglichen. Dennoch mussten die Zugangsstollen alle individuell geplant und ausgeführt werden. Verlief der Zugangsstollen I noch weitgehend als Rampe mit einem geringen Treppenanteil mussten im Zugangsstollen II die Höhenunterschiede von fast einem Stockwerk per Treppe überwunden werden. Beim Zugang III wurde diese Steigung wieder geringer, Zugang IV kam schließlich ganz ohne Treppen aus.

Konzeption 1939

Der Zugangsstollen I hob sich von den anderen Zugängen auch durch andere Merkmale ab. Als einziger war er im 45-Grad-Winkel zum Stollen angeordnet und es war kein Sanitätsraum angegliedert. Die Zugänge II bis IV waren im 90-Grad-Winkel an den Stollen angebaut. In allen dreien lag der Zugang zu einem rechtwinklig links abzweigenden Sanitätsraum, der dem Luftschutzstollen vorgelagert war. Alle vier Zugangsstollen waren als Gasschleuse konzipiert, d.h. sie waren sowohl nach außen als auch nach innen zum Stollen hin mit separaten gasdichten Türen abgetrennt.

Der Luftschutzstollen war für 1.000 Personen konzipiert. Die Bauausführung erfolgte zwischen Jahresanfang und August 1939. Er verfügte über einen Stadtwasseranschluss, jedoch nicht über einen entsprechenden Anschluss an die Kanalisation. In den Toilettenräumen wurde daher Trockentoiletten eingebaut, die nach jedem Alarm geleert werden mussten.

Der Stollen verfügte über eine Filter- und Lüftungsanlage und über elektrisches Licht. Waschräume waren nicht vorhanden. Links und rechts waren einfache Sitzbänke angebracht, dazwischen gab es Stehplätze. Eine längere Verweildauer in der Anlage oder auch die Einlagerung von persönlichen Habseligkeiten wie bei manchen Zivilschutzbunkern aus dem Bauprogramm von 1940/41 war nicht vorgesehen.

Verbindung zur Bahndirektion

Auf der Höhe zwischen den Zugangsstollen I und II erfolgte parallel zur Jägerstraße ein Durchbruch in südwestliche Richtung. Hier schloss sich der Luftschutzstollen der Reichsbahndirektion an, der vom Untergeschoss des Direktionsgebäudes bis zum Stollen Heilbronner Straße verlief und diesen als Notausgang nutzte. Am Durchgang waren Beschriftungen angebracht, die darauf hinwiesen, dass dies kein öffentlicher Luftschutzraum ist. Der Stollen der Bahndirektion war als Werksluftschutzstollen den Mitarbeitern der Reichsbahndirektion vorbehalten. Im Verlauf des Krieges wurden Planungen entwickelt von diesem Stollen noch eine Verbindung zum Stollen in der Jägerstraße zu errichten, die jedoch nicht mehr realisiert wurde. Diese Verbindung hätte ein Stollensystem geschaffen, das vom Güterbahnhof über den Nordausgang des Hauptbahnhofs und die Reichsbahndirektion bis zur Goethestraße geführt hätte.

Kalter Krieg bis heute

Da der Stollen unter einer der wichtigsten Ausfallstraßen der Innenstadt lag, gab es auch keine Versuche, ihn nach dem Krieg zu beseitigen. Die Stollenanlagen im Umfeld des Hauptbahnhofs blieben allesamt zunächst erhalten. Die Anlage unter der Heilbronner Straße wurde während des Kalten Krieges auch in die neue Zivilschutzkonzeption eingebunden.

Inzwischen hatten sich das Umfeld des Güterbahnhofs und der Heilbronner Straße allerdings gewandelt. So mussten die Zugangsstollen umgebaut und neue Eingangsbauwerke errichtet werden. Sie wurden für die Aufnahme massiver, moderner Stahltore konzipiert, wie sie bei ABC-Bunkern des Kalten Krieges üblich waren. Zwischen der Stollenanlage und dem Güterbahnhof waren jedoch auch ein Fernwärme- und ein Kabelkanal gelegt worden, den die neuen Stollenzugänge überbrücken mussten. Nach Abschluss der Rohbauarbeiten an den Zugängen wurden die weiteren Maßnahmen zur „Ertüchtigung“ der Anlage 1972 gestoppt. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Bauarbeiten an der Mehrzweckanlage Hauptbahnhof bereits begonnen, die nicht nur wesentlich mehr Schutzplätze bieten sollte, sondern auch von Anfang an auf die Bedürfnisse der Zeit zugeschnitten war. So präsentieren sie die Zugänge noch heute im Stadium des Rohbaus, während die eigentliche Stollenanlage noch weitgehend die Atmosphäre des Krieges vermittelt.

Mit dem Ausbau der Heilbronner Straße und der Fertigstellung des U-Bahn-Segments in diesem Bereich entstand auch der „Autotunnel Güterbahnhof“, allgemein unter Stuttgarter Autofahrern auch einfach als „U-Turn“ bekannt. Diese Wendemöglichkeit am Nordausgang des Hauptbahnhofs von der Stadtauswärtsspur zurück auf die Einfallstraße entfiel im Rahmen der Bauarbeiten für Stuttgart 21. Ihre Errichtung in den 1970er Jahren führte zu einer Durchtrennung des Luftschutzstollens unter der Heilbronner Straße in einen Bereich südlich des U-Turns mit den Zugängen I und II und dem inzwischen vermauerten Abzweig zur Bahndirektion, sowie einen deutlich längeren Stollenteil mit den Zugängen III und IV. Das kürzere Stollensegment ist bis heute vermietet. Die Verbindung zur Bahndirektion fiel den Bauarbeiten für Stuttgart 21 zum Opfer.

Einblick in die Arbeit eines Bunkervereins

Wir werden immer wieder gefragt, was ein Bunkerverein so macht. Neben den wiederkehrenden Veranstaltungen, dem Sammeln von Informationen, Recherche in Archiven, Medien, Publikationen und Gesprächen mit Zeitzeugen und dem Erstellen von Artikeln für die Homepage erfordert die Erschließung einer Anlage für die Öffentlichkeit oft auch viel Zeit, Mühe, Geduld und Optimismus. Wir haben das für den Stollen unter der Heilbronner Straße exemplarisch hier zusammengefasst.