Tequila-Party im Wagenburgtunnel

 

Die einsetzende Kultur der öffentlichen Parties, die eine starke Wurzel in Berlin in ehemaligen Luftschutzbunkern hatte („Party-Bunker“), erzeugte bei einigen Stuttgartern erneut das Gefühl, es sei nichts los in der Kesselstadt. Und sie schritten zur Tat. Ein Kollektiv aus Künstlern, Kulturschaffenden und anderen Subkulturellen begann 1987/88 unter dem Namen „Stuttgarda Aktiva“ initiativ zu werden.

Ähnlich wie zuvor die Hausbesetzer kundschaftete die Gruppe geeignete Locations aus, in denen sie aktiv werden konnten. Die Parties wurden geplant und organisiert, Eintrittskarten wurden innerhalb der Kneipenszene und über direkte Kontakte verkauft.

Der Konflikt mit dem Gesetz durch die illegale Benutzung der Örtlichkeiten war Teil des Konzepts und verschaffte den Aktionen schnell Kultstatus. Wer in den Besitz einer Karte für ein solches Event kam, wusste, dass er Bestandteil einer verschworenen Gemeinschaft war und sein Wochenende unter Umständen einen ungeplanten Verlauf nehmen kann. Die Parties waren brechend voll. Aus Geheimhaltungsgründen erfuhren die Besucher erst kurzfristig oder am Tag der Party an einem vorgelagerten Treffpunkt an welchem Ort das Event stattfinden wird.

Eine der ersten Aktionen von „Stuttgarda Aktiva“ führte das Partyvolk am 06. Mai 1988 zur Tequila-Party in Räumlichkeiten des Wagenburgtunnels, die seit der Fertigstellung der Südröhre sich selbst überlassen worden waren. Etwa in der Mitte der Südröhre befand sich ein offener Eingang in das Innenleben des ehemaligen Großluftschutzraums. Dieser Durchgang hatte bis dahin keine Tür. Offenbar hatte niemand damit gerechnet, dass sich Menschen in diese Räumlichkeiten verlaufen könnten. Der Autotunnel ist ja für Fußgänger gesperrt.

Von dem Zugang aus war der Weg frei in den Richtstollen, der auch als Rettungsweg und Lieferanteneigang der „Röhre“ diente. Erst vor deren Nebeneingang beendete ein Gitter die Erkundungen der neugierigen Partygäste. Doch auch unter die Fahrbahn gelangte man von hier aus, wo sich ebenfalls Partybesucher in Grüppchen tummelten. Ein weiterer Abzweig führte in die Räume des ehemaligen Sichtstollens der Nordröhre, die seit Kriegsende weitgehend unberührt geblieben waren. Die Räume waren mit Fackeln und Baustrahlern ausgeleuchtet. In etlichen Nebenräumen hingegen gab es gar kein Licht. In manchen lagerte Schutt. In dunkleren Ecken stieß man auf Pärchen, allerdings mussten manche der Räume auch den Mangel an Toiletten kompensieren.

Im Innern des Stollens befanden sich die Musikanlage und die Tequila-Bar, die die ehemaligen Luftschutzräume in eine morbide Disco verwandelten. Der Ausschank erfolgte nach dem Flatrate-Prinzip: Wer ein Ticket gekauft hatte, bekam ausgeschenkt solange der Vorrat reichte.

Die Besucher mussten entweder am Ost- oder am Westportal zu Fuß in den Autotunnel gehen. Es gibt einen erhöhten Fußweg für Rettungszwecke, aber auch für Wartungsarbeiten. Von dort aus gelangte man zu jenem Eingang in der Stollenmitte. Nicht wenige Autofahrer, die in jener Nacht den Tunnel durchquerten wunderten sich angesichts des hohen Fußgänger-Aufkommens im eigentlich fußgängerfreien Tunnel. Die Warnschilder an den Tunnelportalen waren deutlich. Die Abgaskonzentration im Tunnel war für Fußgänger ungeeignet. Viele Autofahrer hupten. Doch die Nachtschwärmer kannten ihr Ziel und ließen sich nicht von den Autofahrern beirren. Freilich war dadurch die Erwartungshaltung der Veranstalter und Partygäste relativ hoch, dass man rasch Besuch von der Polizei bekommen würde.

Umso größer war die Überraschung, dass das Event wohl über drei Stunden ungestört verlaufen konnte, bis die Getränke weitgehend aufgebraucht waren. Der Rückmarsch aus dem Tunnel war für manche Partygäste durchaus nicht ungefährlich. Wer zu viel Tequila hatte, bekam mit dem schmalen Fußsteg Schwierigkeiten. Und so war vermutlich dies der Auslöser, dass letztlich doch noch jemand die Polizei informierte. Als diese gegen 3 Uhr früh vor Ort erschien, war die Party allerdings bereits vorbei. Nach Aussage von „Stuttgarda Aktiva“ hatten die Veranstalter mit ihrem Equipment zu diesem Zeitpunkt bereits den Ort des Geschehens verlassen. Die Polizei fand in erster Linie die Spuren einer lebhaften Party vor. Es dauerte danach nicht lange, bis der Eingang in der Tunnelmitte mit einer soliden Gittertür verschlossen wurde.

Rund 10 Monate später, am 12. März 1989, fand die erste kommerzielle und legale Techno-/House-Party im Longhorn in Stuttgart-Wangen statt. Die Initiatoren hatten das Verlangen der Jugend nach solchen Veranstaltungen und die Erfahrungen von „Stuttgarda Aktiva“ aufgegriffen, aber auch die anderer Veranstalter z.B. in Wien und Berlin und organisierten ihre Events offiziell und im legalen Rahmen. Die Zeit dafür war reif. Im Sommer 1989 fand in Berlin die erste Love Parade statt.