Stuttgart Süd

In einem südlichen Vorort von Stuttgart existiert noch heute ein sehr individueller und gut erhaltener privater Fluchtstollen. Der knapp 10 m lange Stollen führte aus dem Gewölbekeller ins Freie. Bemerkenswert ist nicht nur die qualitativ hochwertige Ausführung, sondern auch die Anordnung des Stollens.

Ein Blick in die (Bau-)Geschichte

Die heutigen Eigentümer des Gebäudes übernahmen das Haus zunächst ohne sich seiner Geschichte in vollem Umfang bewusst zu sein. Das Haus wurde in einer Wohnsiedlung in den 1920er Jahren in Fachwerk errichtet und trug noch die Handschrift der eher traditionellen Bauart dieser Zeit.

In den 1930er Jahren erfolgten Anbauten und eine weitreichende optische Änderung. Das nun vergrößerte Anwesen erhielt das Erscheinungsbild einer repräsentativen Stadtvilla, mit einer großzügigen Veranda und der typischen Optik des nun modernen Baustils. Auch eine Garage wurde angebaut, die noch heute das original Falttor aus der Bauzeit besitzt.

Am Anfang war der Schutzraum

Für die Bewohner wurde zunächst der Gewölbekeller zum Luftschutzraum ausgebaut. Für den Notausstieg wurde ein Durchbruch nach außen geschaffen und der Raum erhielt eine Luftschutztür. Vermutlich waren dies zunächst die einzigen baulichen Veränderungen. Da das Gebäude kein volles Untergeschoss besitzt, sondern dieses nur ca. 1,5 m in die Erde eingelassen ist, sitzen die Kellerfenster nicht in Lichtschächten. Der Notausstieg konnte ca. 60 – 70 cm über dem Kellerboden eingebaut werden. Er mündete in einen kurzen Schacht aus Ziegelmauerwerk. Heute ist er zugemauert.

Ab einem bestimmten Zeitpunkt schien dem Hausherrn der Gewölbekeller nicht mehr sicher zu sein. Er begann eine ungewöhnliche Baumaßnahme. Da der Gewölbekeller keine Übererdung hat und auch nur teilweise im Erdreich sitzt, ließ er einen Stollen unter den Gewölbekeller bauen.

Der Fluchtstollen

In den Boden des Gewölbekellers wurde ein rechteckiger Schacht mit 2,2 m Tiefe eingebaut, der mit einer fest montierten Falltür aus Stahl verschlossen werden kann. Für den Abstieg in den Schacht wurde extra eine solide Holzleiter angefertigt, die am Boden des Schachts in zwei passgenaue Vertiefungen eingesetzt werden kann, damit sie nicht wegrutscht. Diese Leiter gibt es noch heute. Sie wurde nicht fest eingebaut, sondern lag während des Krieges vermutlich im Luftschutzraum bereit. Nach Kriegsende wurde sie in einem Schuppen eingelagert, wo sie bei guten klimatischen Bedingungen die Jahrzehnte überstand.

Von der Sohle des Schachts aus wurde ein Kriechstollen mit 1,3 m Höhe und 70 cm Breite nach außen ins Grundstück geführt.

Dabei knickt der Stollen zunächst um 10 Grad nach rechts und dann wieder nach links ab (ca. 20 Grad). Das erste Segment von 2, 6 m Länge ist mit Betonfertigteilen ausgekleidet, die jeweils 20 cm breit und als Halbbogen ausgeführt sind. Danach bestehen die Wände aus Ziegelmauerwerk, das grob verputzt wurde. Die Decke besteht aus Beton. Hier ist der Stollenquerschnitt rechteckig.

An den Übergängen der jeweiligen Segmente wurde hochwertiger Beton verbaut. In der Betondecke wurden in regelmäßigen Abständen Hölzer eingegossen, an denen eine Elektroinstallation zur Beleuchtung hätte angebracht werden können. Es konnten aber keine Spuren einer solchen Installation gefunden werden, die Hölzer weisen nicht einmal Löcher von Nägeln auf. Folglich ist davon auszugehen, dass kein Einbau von Elektrik erfolgte.

Die Überdeckung des Stollens am Haus beträgt 2,3 m, im weiteren Verlauf nimmt sie auf 1,3 m ab. Der Aushub des Stollens verblieb im Grundstück. Teilweise wurde er auf die Stollendecke geschüttet, was ihre Überdeckung erhöhte.

Nach ca. 7,5 m knickt der Gang zunächst um 90 Grad nach links und anschließend um 90 Grad nach rechts ab. Nach dieser typischen Schleusenkonstruktion ist der Stollen allerdings verschüttet. In diesem Bereich wurde wieder mit Betonfertigteilen gebaut. An der Decke ist erkennbar, wo dieser Ausbau endet. Dort ist eine Art Betonsturz zu finden, der ein starkes Indiz dafür ist, dass an dieser Stelle ein Schacht zum Ausstieg nach oben führte.

Das fehlende Ende

Leider ist dieser Abschnitt mit Erde und Steinen verfüllt, so dass eine abschließende Verifizierung nicht möglich ist. Eine Untersuchung des Grundstücks ergab einen Verdacht, wo dieser Schacht an die Oberfläche gekommen sein dürfte. Da man den Ausstieg aber sorgfältig verfüllte und das Grundstück entsprechend planierte, könnten nur Probebohrungen, bzw. Grabungen eine absolute Sicherheit bringen. Diesen Aufwand werden die Eigentümer jedoch nicht betreiben.

Zu trockenen Zeiten ist der Boden im Stollen lehmig und nass. Nach längeren, ergiebigen Regenfällen kann dort allerdings auch Wasser stehen. Bei unserer Begehung im September 2014 wateten wir durch bis zu 25 cm hoch stehendes Wasser.

Offene Fragen

Die Abmessungen des Stollens und sein Verlauf lassen den Zweck klar erkennen. Der Stollen war nicht zum Aufenthalt bestimmt, sondern als Fluchtstollen, wenn die Bewohner im zum Luftschutzraum ausgebauten Gewölbekeller eingeschlossen worden wären. Für diesen Zweck waren die Abmessungen ausreichend. Die Konstruktion indes war ungewöhnlich hochwertig, die Bauausführung sauber und professionell. Der Beton weist auch heute noch kaum Auswaschungen auf, die Fertigteile haben weder Risse noch Brüche, die Ziegel sind vollständig intakt. Wenn der Stollen, wie vermutet, erst ca. 1943 errichtet wurde, hatte der Bauherr noch ungewöhnlich gute Möglichkeiten, dieses Projekt umzusetzen.

Fragen wirft auch der Luftschutzraum auf. Bei einem solchen Anwesen wäre es naheliegend eine Stahltür vorzufinden. Tatsächlich wurde der Gewölbekeller aber mit einer ca. 12 cm starken Luftschutztür aus massivem Holz verschlossen. Es ist mit Sicherheit die Originaltür. Beschläge, Riegel und Bauart lassen daran keinen Zweifel. Allerdings wurden solche Türen eher im späteren Verlauf des Krieges verbaut, um Stahl zu sparen.

Dieser Umstand erschwert die Datierung, wann der Gewölbekeller tatsächlich ausgebaut wurde. Es scheint möglich, dass auch dieser Ausbau erst relativ spät erfolgte, als man in der Stuttgarter Innenstadt bereits die große Mehrheit der Keller umgerüstet hatte. Dann wären die Maßnahmen eventuell erst im Jahr 1942 begonnen worden.

Datierungsversuch

Zeitzeugen zufolge wurde der Stollen erst im Verlauf des Krieges errichtet und sehr wahrscheinlich erst begonnen, nachdem in der näheren Umgebung Häuser von Bomben getroffen worden waren.

Das früheste Ereignis das als Auslöser für den Bau dieses Stollens fungiert haben könnte, wäre dann der Luftangriff vom 22. November 1942 gewesen. Die britische Luftwaffe griff Stuttgart mit 222 Bombern an, von denen 191 die Stadt erreichten. Nebel und Wolken behinderten jedoch die Sicht, so dass die ersten Bomben bereits über Musberg bei Böblingen ausgeklinkt wurden.

Die schwersten Zerstörungen richteten die Bomber in dieser Nacht in Vaihingen, Rohr und Möhringen an. Aber auch die hölzernen Bahnsteigdächer des Hauptbahnhofs fielen den Brandbomben zum Opfer. Sprengbomben verwüsteten das Gleisvorfeld wo etliche Waggons zerstört wurden. 28 Menschen starben, 71 wurden verwundet.

Möglicherweise war es aber auch der Angriff vom 11. März 1943, der erneut statt der Stuttgarter Innenstadt hauptsächlich Vaihingen, das südliche Stadtgebiet Stuttgarts und Kaltental traf. Auch hier war schlechte Sicht eine der Hauptursachen für die Fehlwürfe. Hinzu kam eine zu große zeitliche Differenz zwischen dem Abwurf der Zielmarkierungen und dem Eintreffen der 279 Bomber. Die Zielmarkierungen waren schon weitgehend abgebrannt, die Bomber warfen ihre Last überwiegend auf Verdacht. Es gab 112 Tote und 386 Verwundete.

Eine genauere Datierung des Stollens scheint nicht mehr möglich. Unterlagen zum Stollenbau wurden nicht gefunden. Der damalige Eigentümer kam kurz nach Kriegsende ums Leben.

Ein amerikanisches Kasino

Die Witwe des Eigentümers wohnte zunächst noch im Haus, musste aber 1945 ausziehen, da das Gebäude von den amerikanischen Truppen requiriert wurde. Es diente einige Zeit als Kasino für niedere Offiziersränge (NCOs, Non-Commissioned Officers). Aus dieser Zeit ist noch eine Preistafel erhalten, die einen Einblick in diesen Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte bietet.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Amerikaner auch den äußeren Zugang zum Stollen verfüllten und unkenntlich machten. Nach ihren Abzug wurde das Haus an die Witwe zurückgegeben, die noch lange Zeit dort wohnte. Der Stollen unter dem Keller geriet in Vergessenheit.