Leonberg Engelbergtunnel

Am 27.09.1934 wurde der Vorentwurf für die 68 Autobahnkilometer von Echterdingen bis Heilbronn mit dem Engelbergtunnel als dem ersten Reichsautobahntunnel in Deutschland vom Generalinspekteur für das deutsche Straßenwesen, Dr. Ing. Fritz Todt, genehmigt. Die Gesamtkosten für das Bauvorhaben wurden auf 36 Mio. RM veranschlagt. 1935 erfolgte die Ausschreibung.

Ausschreibung und Bau

Das Los 34 mit einer Gesamtlosstrecke von 1.400 m umfasste das Erstellen der beiden Tunnelröhren einschließlich der Portale, alle Unterbauarbeiten, sämtliche Erdarbeiten in Verbindung mit dem Tunnelbau und die Stützmauern entlang der Vorabschnitte. Es enthielt nicht die Betondeckenarbeiten.

Die Firma Dyckerhoff und Widmann AG, Stuttgart erhielt im Juli 1935 den Zuschlag auf die Ausschreibung. Sie veranschlagte eine Vertragssumme von 2.943.495,16 RM. Die Ausführungsfrist sah 450 Werktage vor, was bei einer damals üblichen 6-Tage-Woche 75 Wochen entsprach. Tatsächlich wurden letztlich 4.044.398,51 RM abgerechnet.

Der Ausbruchquerschnitt der Röhren betrug 145 qm bei einer Höhe von 12,60 m und einer Breite von 13,50 m. Insgesamt schafften die 350 Arbeiter im Zwei-Schicht-Betrieb 90.000 cbm Ausbruch aus dem Mergelgebirge, das mit seinen wasserführenden Schilfsandsteinschichten die Tunnelbauer vor einige Herausforderungen stellte. Das 1 m dicke Tunnelgewölbe wurde mit Klinkern in Zementmörtel eingemauert. 9.000 cbm Gewölbemauerwerk mit 4 Mio. Klinker und 5.000 cbm Holz wurden verarbeitet. Die höchste Überdeckung der Röhren betrug 40 Meter.

Während die Reichsautobahn um Stuttgart und Leonberg 1936 fertiggestellt werden konnte, wurde beim Engelbergtunnel noch im gleichen Jahr die Sicherheit der „Gefolgschaft“ über die Termintreue gestellt. Immerhin waren die qualifizierten Arbeitskräfte gesuchte Spezialisten, die zur Hälfte aus Österreich angeworben werden mussten, da sie im Reich nicht in ausreichender Zahl verfügbar waren. So dauerte es mit der Eröffnung des 318 Meter langen Tunnels bis zum 05. November 1938.

Umwidmung zum Rüstungsbetrieb

Bereits nach Beginn des Krieges 1939 verfiel das bis dahin so spektakuläre Bauwerk in Bedeutungslosigkeit, da es keinerlei kriegswichtige Verkehrsader bediente. Dies änderte sich schlagartig, als im Frühjahr 1944 der Tunnel für die Rüstungsproduktion umgewidmet wurde. Unter dem Decknamen „Reiher“ wurden ab April Tragflächen für den Düsenjäger Me 262 gefertigt. Das Presswerk Leonberg, ein Unternehmen der Messerschmitt AG, ließ dazu je eine Zwischendecke in die beiden Röhren einbauen um zweigeschossige Produktionshallen mit einer Gesamtfläche von 11.000 qm zu erhalten.

Bis auf einige deutsche und wenige ausländische Spezialisten, Angestellte von Messerschmitt, waren die Arbeitskräfte Zwangsarbeiter, die unter verheerenden Bedingungen rücksichtslos verbraucht wurden. Untergebracht waren sie im eigens für das Presswerk Leonberg errichteten KZ Leonberg, einem Außenlager des KZ Natzweiler-Struthof.

Viele Zwangsarbeiter in Leonberg kamen aus dem KZ Dachau und dessen Außenlagern. Etliche wurden direkt aus Lagern, die ebenfalls für Messerschmitt arbeiteten, nach Leonberg verbracht, zum Beispiel aus Kaufering.

Im März 1944 begannen die Arbeiten am KZ Leonberg. Vorauskommandos aus Natzweiler-Struthof stellten auf der „Barwiese“ zwischen der Seestraße und der Reichsautobahn Holzbaracken aus Fertigteilen auf. Der Quellenlage zufolge waren es wohl „Mannschaftshäuser“ des Reichsarbeitsdienstes.

Das Ergebnis dieser Aktion war das „alte Lager“, von den mit der Planung betrauten Stuttgarter Architekten Lambrecht und Osthus für das Presswerk Leonberg als Provisorium entworfen, das durch ein Lager aus massiven Bauten aus Stein abgelöst werden sollte. Dieses „neue Lager“ wurde zwar errichtet und belegt, jedoch bis Kriegsende nicht fertig. Das „alte Lager“ blieb bis zur Auflösung des KZ Leonberg in Betrieb.

Der Tunnel als Fabrik

Der Engelbergtunnel beherbergte diverse Stationen der Qualitätskontrolle, der Montage und Endmontage für die Tragflächen der Me 262. Zum Schutz vor Fliegerangriffen wurden die Eingänge mit vorgebauten, gegeneinander versetzten Stahlbetonwänden versehen. Im Zwischenraum ihrer Überlappung passte jeweils nur ein Mann gleichzeitig durch. Am Eingang zur tiefer liegenden Weströhre gab es keine solche Schleuse, da dort die fertig montierten Tragflächen hinausgebracht wurden. Hier war ein massives Falttor aus Holz und Stahl eingebaut worden, das zum herausschieben der Tragflächen komplett geöffnet werden musste.

Die Zwischendecken lagen auf Doppel-T-Trägern auf, deren unterer Teil aufgeschweißt und auseinander gebogen war, um die Standfestigkeit zu erhöhen. Die Geschosse waren an mehreren Stellen über Treppen miteinander verbunden. Zwischen den Tunnelröhren wurden an wahrscheinlich zwei Stellen Verbindungsstollen von Fahrbahnniveau zu Fahrbahnniveau gebrochen. Manche Zeugen berichten von nur einer Verbindung. Diese hatte ca. 4 m Durchmesser. Auf allen vier Arbeitsebenen wurde elektrische Beleuchtung installiert, dazu die notwendigen Pressluft- und Elektroanschlüsse und die zugehörigen Leitungen. An den Decken wurden mehrere Laufkatzen eingebaut, mit denen die Tragflächenteile von einer Arbeitsstation zur anderen transportiert werden konnten.

Im Obergeschoss der Weströhre wurden die Rohbleche gelagert und zugeschnitten und dann nach unten zur Montage gebracht. Dort wurden die Tragflächen zusammengebaut, die vorgefertigten Einbauteile eingesetzt und die ebenfalls fertig angelieferten Fahrwerke auf korrekte Funktion geprüft. Einbauteile waren z.B. Hydraulik- und Pressluftschläuche, Bediengestänge für Klappen und Ruder und Beschläge. Das Hauptfahrwerk wurde in einer Zelthalle in Korntal-Münchingen montiert und von dort in den Engelbergtunnel geliefert.

In der westlichen Tunnelröhre gab es auf der gesamten Länge eine Art Fließband. Es war ein System aus Montagewagen, auf denen die Werksteile von einem Arbeitsplatz zum nächsten geschoben werden konnten.

Im Untergeschoss der Weströhre wurden Blechteile gepresst, die Tragflügelspitze gefertigt und montiert, evtl. Nachbesserungen vorgenommen und die Endkontrolle durchgeführt. Die aus der Oströhre kommenden Rumpfteile wurden mit Nieten zusammengefügt und anschließend auch die beiden Tragflächen. In der Oströhre befand sich im Untergeschoss die Fertigung und Montage einschließlich Endkontrolle des Rumpfteils, im Obergeschoss die Nachbesserung und Mängelbehebung.

Die fertigen Tragflächen wurden zum Südausgang der Weströhre ausgeliefert und an der Autobahn Richtung Eltingen mit Tarnnetzen bedeckt gelagert. Der Transport zum Bahnhof erfolgte mit Handwagen oder Loren. Als die Bahnverbindung nicht mehr funktionierte, wurde sie per LKW zur Endmontage gebracht. Diese erfolgte u.a. im Waldwerk „Kuno I“ im Waldgebiet Justing nahe des Fliegerhorsts Leipheim, das ab März 1944 errichtet wurde, oder im Waldwerk in Schwäbisch Hall Hessental. Dort wurde unter dem Decknamen „Autobedarf Schwäbisch Hall“ ebenfalls ab März 1944 eine Endmontage für die Me 262 aufgebaut.  460 der knapp 1.500 ausgelieferten Me 262 wurden in Schwäbisch Hall montiert.

Die Waldwerke sollten später durch die Bunkerfabriken „Weingut I“ und „Weingut II“ in Mühldorf am Inn und Kaufering ersetzt werden, die bis Kriegsbeginn jedoch nie fertig wurden. Nach Kaufering wurden allerdings die Fertigungsmaschinen und die Tragflächenmontage nach Aufgabe der Produktion im Engelbergtunnel verbracht. Die Häftlinge wurden am15. April 1945 per Fußmarsch nach Esslingen „evakuiert“. Dort wurden sie ohne Wasser und Verpflegung auf Bahnwaggons verladen. 1989 traten den Weg nach Kaufering an und 724 nach Mühldorf am Inn. Beide Bunkerfabriken wurden speziell für die Produktion der Me 262 errichtet.

Arbeitsbedingungen

Die Arbeitszeiten wurden mehrfach geändert, doch ein paar Elemente blieben im Kern immer gleich. Im Tunnel wurde rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche gearbeitet. In der Regel galten 12-Stunden-Schichten. Vor allem in der Oströhre, wo es keine Türen gab, herrschte permanenter Durchzug. Eine Heizung war im Tunnel nicht vorhanden. In den Wintermonaten bot die dünne Häftlingskleidung keinen Schutz vor der Kälte, die durch die Tunnelröhren zog.

Die Tunnelwände reflektierten den Hall und das Dröhnen des Betriebs, in dem Ohren betäubender Lärm herrschte. Neben dem Zuschneiden, Sägen und Pressen der Metallteile waren die Häftlinge mit Holzhämmern und Luftdruckkompressoren damit beschäftigt die Tragflächen von Metallspänen zu reinigen. Andere trieben mit Niethämmern die Alu-Nieten in die Tragflächen. Für die letzte Montagestufe wurden Sprengnieten eingesetzt, da in die Innenseite der fertig montierten Tragflächen nicht mehr hineingegriffen werden konnte. Die Sprengnieten wurden mit dem Schweißbrenner ausgelöst.

Ein Abluftsystem gab es nicht, gleichwohl eine Gruppe meist Niederländischer Zwangsarbeiter damit beschäftigt war, einen 22 m tiefen Abluftkamin zum Scheitel einer der Röhren zu treiben. Es ist unklar, ob er je fertig wurde. Ihnen standen keine Maschinen zur Verfügung.

Die hygienischen Verhältnisse im Lager und im Tunnel waren katastrophal und wurden vom zuständigen Amtsarzt heftig kritisiert, da sie fast schon zwangsläufig den Ausbruch von Seuchen beförderten. Im Tunnel gab es lange Zeit keinen Abort. Außerhalb des Tunnels wurden auf dem Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen Latrinen erstellt. Erst Ende 1944 wurde eine Latrine im Tunnel eingebaut, aus Angst vor Luftangriffen. Der Zugang zur Toilette musste stets genehmigt werden und wurde seitens der Wachmannschaft nicht selten grundlos verwehrt. Ein deutscher Messerschmitt-Angestellter berichtete von einem Seitenstollen, den er nie betreten hat, weil es darin unerträglich nach Exkrementen stank.

Der Tunnel hatte eine Wasserversorgung, die von einem eigenen Bautrupp aus dem KZ errichtet wurde. In die Klärung oder Kanalisation der Abwässer wurde hingegen nicht investiert, so dass diese direkt in die unmittelbare Umgebung des Tunnels und bis zum Seedamm geleitet wurden.

Die Arbeitsbedingungen im Tunnel, die mangelhafte Ernährung und die primitive Unterbringung lassen keinen Zweifel daran, dass der Tod der Zwangsarbeiter im Engelbergtunnel bewusst in Kauf genommen, bzw. einkalkuliert wurde.

Nicht mehr arbeitsfähige Häftlinge wurden umgehend durch noch arbeitsfähige ausgetauscht, viele von ihnen wurden einfach in Sterbelager transportiert. So entledigte sich das KZ Leonberg insgesamt 127 Häftlinge durch drei Transporte am 14. und 20. Dezember 1944 sowie am 12. Januar 1945 ins Lager Vaihingen-Enz. 85 davon sind dort nachweislich verstorben.

Die meisten Rücktransporte erfolgten in Richtung Dachau und dessen Außenlager. Nach heutigem Kenntnisstand kamen 389 Zwangsarbeiter in Leonberg selbst um, davon sind 337 in einem Massengrab auf dem Friedhof Seestraße beigesetzt, 16 wurden 1944 auf dem Pragfriedhof in Stuttgart eingeäschert und bestattet.

Neben der allgegenwärtigen Kälte und Nässe waren schlechte Ernährung, gezielte körperliche Überbeanspruchung und das völlige Fehlen von Arbeitsschutz die Hauptfaktoren für Erkrankung und Tod der Häftlinge. Wer im Tunnel arbeitete, litt unter der schlechten Lüftung und war ohne Atemschutz permanent Aluminiumstaub ausgesetzt. Hautreizungen und Durchfall waren normale Erscheinungen. Etliche Zwangsarbeiter litten unter der Ruhr. Im Dezember 1944 brachen im Lager Fleckfieber und Typhus aus.

Außenbetriebe

Die U-Fabrik im Engelberg ergriff in wenigen Monaten Besitz von großen Teilen Leonbergs. Die stillgelegte Schreinerei Kaufmann in der Bahnhofstraße 2 wurde wieder aktiviert und dem Rüstungsbetrieb zugeordnet.

In der Glemsturnhalle in der Bruckenbachstraße wurde ein Zulieferbetrieb für die Fertigung mechanischer Komponenten eingerichtet, der mit KZ-Häftlingen betrieben wurde. Die Dyckerhoff & Widmann AG errichtete Anfang 1944 in der Römerstraße ein Betonwerk. Die dort eingesetzten Zwangsarbeiter fertigten die Betonformsteine und -platten für die Massivbauten des „neuen Lagers“, sowie die Deckenelemente für die Zwischendecke in den Tunnelröhren.

Das Werk war maschinell primitiv ausgestattet und arbeitete mit einem hohen Anteil an menschlicher Arbeitskraft. Auf der östlichen Seite des Geländes wurde eine ca. 78 auf 38 Meter große Halle errichtet, die wohl zur Produktion bestimmt war. Während des KZ-Betriebs wurde sie allerdings zum Lagern von Blechen für die Tragflächenproduktion genutzt. Heute steht dort das Möbelhaus Mutschler.

Die Dyckerhoff-Häftlinge waren u.a. in einem Gebäude der seit 1938 geplanten und 1944 weitgehend fertiggestellten Flakkaserne in der Rutesheimer Straße 50 untergebracht (3A-C). Die beiden anderen Kasernengebäude wurden als Wohnheim für bis zu 300 Messerschmitt-Facharbeiter genutzt ((50/1), die die Arbeiten im Tunnel anleiteten und der Bauleitung der Organisation Todt (50/2A-B) zur Verfügung gestellt. Alle drei Gebäude sind noch heute erhalten und werden von der Stadt Leonberg genutzt. Mehrere andere Gebäude im Bereich der Altstadt wurden ebenfalls zur Unterbringung von Zwangsarbeitern genutzt. Gegen Ende des Krieges standen den rund 8.000 Einheimischen in Leonberg rund 6.000 Ortsfremde gegenüber.

Kriegsende bis heute

In Befolgung des „Führerbefehls“ vom 19.03.1945, der die Zerstörung aller „militärischen Verkehrs- Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie der Sachwerte innerhalb des Reichsgebietes“ verfügte, wurde der Tunnel nach Räumung des Lagers am 15. April 40 m bzw. 70 m hinter den vier Portalen gesprengt. Die Röhren stürzten dadurch auf jeweils rund 20 Metern ein, die Gewölbe wurden erheblich beschädigt.

Zwar begann man bereits 1946 mit dem Abräumen der Trümmermassen, doch konnte erst am 17.11.1950 der Verkehr wieder freigegeben werden. Er führte zunächst einbahnig durch die Weströhre. Die stärker beschädigte Oströhre wurde erst in den Jahren 1960/61 instand gesetzt. Bereits wenige Jahre später begann die Diskussion um eine Neuordnung der Verkehrswege, die dem steigenden Verkehrsaufkommen nicht mehr gerecht wurden. Anfang der 70er Jahre entstand die Idee des Engelberg-Basistunnels, der 1977 im Vorentwurf aufgestellt und 1978 genehmigt wurde. Am 31.08.1999 war der neue Tunnel endgültig fertiggestellt. Somit konnte der alte Tunnel außer Dienst genommen werden. Der Verkehr wurde fortan nicht mehr durch das ehemalige KZ geleitet.

Nachdem im Oktober 2004 durch das Regierungspräsidium Stuttgart Bedenken an der Stabilität des Tunnelgewölbes laut wurden, wurden im Mai 2006 beide Röhren für eine Begutachtung geöffnet. Da Fachleute den beiden Tunnels eine mangelnde Stabilität bescheinigten, wurde am 8. Oktober 2007 mit den Bauarbeiten zur kompletten Verfüllung und Verpressung des alten Engelbergtunnels begonnen. Ein rund 20 m langes Teilstück der Weströhre am Südportal blieb als Teil der Gedenkstätte erhalten.

Homepage der Gedenkstätte des KZ Leonberg.

Auf dieser Seite sind weitere Bilder vom Bau der Reichsautobahn bei Leonberg und Eltingen zu finden.